Phantome – das sind die eigentlichen, wenn auch verborgenen Akteure in dem vorliegenden Buch von Hans-Jürgen Heinrichs. Der Leser wird gemeinsam mit diesen Zwitterwesen, die irgendwo zwischen Realität und Einbildung zu existieren scheinen, auf die Spielbühne des Lebens gestellt. Er bekommt die Möglichkeit, wechselnde Rollen und Perspektiven einzunehmen, während er unablässig mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen der realen Wirklichkeit und der wirklichen Realität konfrontiert wird.


Ausgangspunkt und Thema ist der Tinnitus, ein quälendes Ohrgeräusch, das immer öfter Menschen befällt. Auch der Autor wurde ursprünglich von diesem Phantomgeräusch heimgesucht. Es ist ihm jedoch gelungen, sein existentielles und leidvolles Erleben in einen Erfahrungs- und Erkenntnisprozess umzuwandeln und zum Dreh- und Angelpunkt für die Entfaltung einer ganz neuen Weltanschauung zu machen. Menschliches Leiden, Krankheit und Gesundheit, Patient und Arzt, Wahrnehmung und Täuschung, Wahn und Wirklichkeit werden in verschiedenen Figuren und Szenen dieses Buches lebendig. Sie erweisen sich als lehrreiche Begleiter während der erzählerischen Reise durch die verschiedenen Aspekte einer ganz außerordentlichen Erfahrung: der Begegnung mit einem Phantom.

Der Leser kann verschiedene Perspektiven einnehmen, sich mit dieser oder jener Sichtweise identifizieren und am Ende selbst versuchen, sich die Wahrnehmung von Welt unter eigenen, neu entwickelten Gesichtspunkten zu erschließen. Ob er nun Therapeut ist, ob er selbst an Tinnitus leidet, ob er Freunde oder Angehörige mit Tinnitus betreut, ob er Hirnforscher ist und wissenschaftlich an der Problematik von Wahrnehmung interessiert ist, ob er Theologe oder einfach nur wissensdurstig ist: dieses Buch wird ihm in jedem Falle neue zusätzliche Perspektiven eröffnen. Keine andere Untersuchung im Zusammenhang mit Tinnitus hat bisher einen so weiten Horizont eröffnet, der sich von literarischen und künstlerisch-schöpferischen Aspekten bis hin zur Psychoanalyse und Hirnphysiologie erstreckt.

Dabei erweist sich die erzählerische Zugangsweise als besonders geeignet, um eine vorschnelle Abwehrhaltung bei Experten der Einzeldisziplinen zu umgehen. Denn selbst weithin anerkannte Spezialisten, die in besonderem Maße von der eigenen Kompetenz überzeugt sind, bleiben offen und aufnahmebereit für unkonventionelle, ja fremdartige und von den eigenen Vorstellungen oder von der herrschenden Meinung abweichende Gedanken, solange es sich ››nur« um erzählerische Texte handelt. Fachbezogene Vorschläge hingegen werden oft als Eindringen in das eigene Territorium empfunden und von vornherein abgelehnt.

Kaum ein Autor hat bisher in so eindringlicher Weise das eigene individuelle Erleben und die existentielle Krise zum Ausgangspunkt für weiterführende, allgemein gültige wissenschaftliche Betrachtungen zur Physiologie, Psychologie und Philosophie der Wahrnehmung schlechthin gemacht. Kein Autor hat es bisher unternommen, den Bogen in der Tinnitusproblematik so weit zu spannen, dass die Betrachtungsweisen von naturwissenschaftlichen Überlegungen bis hin zur östlichen Philosophie und dem Zen-Buddhismus reichen. Heinrichs gelingt es in nachfühlbarer Weise, seine persönliche Befindlichkeit zu transzendieren, um die Unterschiede von Sein und Schein, von Phantasma und Realität, von Leib und Seele philosophisch aus verschiedenen Blickrichtungen zu beleuchten. Dabei bleibt er nicht bei Betrachtung, Analyse und Kritik stehen, sondern macht einen weiteren Schritt hin zur Entwicklung eines völlig neuen, umfassenden und ganzheit-lichen Therapie- und Heilungskonzeptes.

Auch der Autor dieses Nachworts hat eigene Tinnituserfahrungen gesammelt und ist dadurch buchstäblich zum ››verwundeten Heiler« geworden. Es handelt sich dabei aber um ein Selbstexperiment, das dazu diente, Tinnitus am eigenen Leibe kennen zu lernen. Als Hals-Nasen-Ohrenarzt hatte ich jahrelang mit Patienten zu tun, die zum Teil nur leicht, in einzelnen Fällen aber ganz existentiell unter Tinnitus litten. Für einige Patienten war das Problem so quälend und unerträglich, dass sie ständig Selbstmordgedanken hatten. Einer meiner Patienten, Direktor einer Schule in Frankfurt, hat sich tragischerweise tatsächlich das Leben genommen.

In dieser Situation beschloss ich, Tinnitus aus eigenem Erleben heraus kennen zu lernen. Mir war nämlich aufgefallen, dass viele Patienten sich bitter darüber beklagten, dass ihnen kein Arzt richtig zuhörte – geschweige denn Verständnis für sie aufbrachte. Selbst die Familienangehörigen schüttelten oft nur verständnislos den Kopf, wenn sie hörten, dass ein Tinnitus aufgetreten sei. Mit Hinweisen, sie sollten doch einmal ausspannen, richtig ausschlafen oder ein paar Durchblutungstabletten nehmen, wurden die Bedauernswerten oft abgespeist. ››Steigern Sie sich doch da nicht selbst hinein« oder ››Ignorieren Sie das Ohrgeräusch doch einfach« oder ››Sie müssen lernen, damit zu leben, man kann ohnehin nichts machen« – diese und ähnliche klischeehaften Ratschläge mussten sich die Leidtragenden sogar von erfahrenen Ärzten anhören. Man könnte nun meinen, dass Personen, die so sprechen, die Betroffenen nicht recht ernst nehmen würden. Derartige Reaktionen von Ärzten und Außenstehenden deuten aber darauf hin, dass ein tiefes Unverständnis zwischen Menschen mit Tinnitus und Menschen ohne Tinnitus bestehen muss. Offenbar existiert zwischen denen, die ihn kennen, und denen, die ihn nicht kennen, keine Möglichkeit, das wahre Wesen des Tinnitus zu kommunizieren und das Charakteristische gerade dieses Leidens mitzuteilen.

Anders scheint es beim Schmerz zu sein, denn diese Erfahrungsqualität kennt jeder. Da weiß man, worüber man redet. Schmerzen haben alle schon einmal gehabt, daher können wir mit dem Leidtragenden empathisch mitfühlen. Eben dieses ist aber beim Tinnitus nicht ohne weiteres möglich. Können wir also nur das kommunizieren, was wir ohnehin schon wissen?

Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie müssten jemandem, der farbenblind ist, erklären, was unter ››rot« zu verstehen ist. Oder Sie hätten die Aufgabe, jemandem, der noch nie Fenchel oder Erdbeeren gegessen hat, diese Geschmacksqualitäten zu vermitteln. Vielleicht kann sogar im tabuisierten Bereich der Sexualität diese Schwierigkeit noch deutlicher gemacht und exemplifiziert werden. Jedem, der einen Orgasmus erlebt hat, leuchtet unmittelbar und sofort die Unmöglichkeit ein, nur durch Erklärung mit Worten zu vermitteln, was das ist.

Erklären und Verstehen können also nie und nimmer ein tatsächliches eigenes Erleben ersetzen. Daher hatte ich mir in Bezug auf Tinnitus vorgenommen, das Selbstexperiment zu vollziehen: den Übergang von jemandem, der Tinnitus nicht kennt, zu jemandem, der ihn am eigenen Leibe erlebt hat. Dieses Vorhaben könnte auch als Initiationsritus besonderer Art bezeichnet werden, als eine Art ››Einweihung«, die mich meinen Patienten näher bringen sollte. Wie sollte ich mir aber nun den Tinnitus verschaffen? Ich hatte ja doch nicht vor, mich selbst zu verletzen und bleibende Schäden zurückzubehalten. Selbstzerstörerische Maßnahmen wie ein Schalltrauma kamen daher für mich nicht in Frage. Nach sorgfältigem Studium der Literatur stieß ich schließlich auf die chemische Substanz Acetylsalizylsäure.

Um mein Ziel zu erreichen, war es vielleicht am einfachsten, hohe Dosen von Acetylsalizylsäure (Aspirin) einzunehmen. Diese Substanz ist seit vielen Jahrzehnten dafür bekannt, dass sie Tinnitus hervorrufen kann. In den Anfangszeiten von Aspirin wurde dieser Nebeneffekt sogar dafür genutzt, um die richtige Dosierung bei Patienten mit schwerem Rheuma herauszufinden. Das war zur damaligen Zeit eine schwierige Aufgabe, weil Aspirin nur sehr langsam vom Organismus abgebaut wird, aber im Blut selbst nicht direkt gemessen werden konnte. Daher ist man nach folgendem Schema vorgegangen: Die Patienten bekamen täglich steigende Dosen von Aspirin. Sobald sich ein Ohrgeräusch einstellte, wurde die Dosis von Aspirin etwas reduziert. Das Ohrgeräusch galt also als Indikator für die richtige Dosierung des Medikaments. In der Literatur war beschrieben und behauptet worden, dass nach Absetzen von Aspirin der Tinnitus – so wie er gekommen war – wieder verschwinden würde.

Ich beschloss daher, diesen experimentellen Weg zu gehen, um den Tinnitus selbst kennen zu lernen, um am eigenen Leib zu verspüren, was Tinnitus wirklich ist.

Gesagt – getan. Ich begann also in langsam steigenden Dosen zunächst 6 g, dann bis zu 16 g(!) Aspirin täglich einzunehmen. Bereits dies empfand ich als Risiko, denn Aspirin ist bekannt dafür, dass es Magenblutungen und andere Nebenwirkungen hervorrufen kann. Schon jetzt fühlte ich mich also in die Lage eines Patienten versetzt. Denn ich hatte Bedenken und Angstgefühle bei der Befolgung meiner eigenen, mir selbst verschriebenen Behandlung.

Bald nach Beginn des Experiments trat eine weitere Schwierigkeit auf: ich entwickelte einen Widerwillen gegen die Einnahme der riesigen Mengen Tabletten. Ich musste mich förmlich dazu zwingen. weiterzumachen und mich selbst überlisten, indem ich die Tabletten zum Beispiel in einer größeren Menge von Marmelade versteckte. Ich ließ die Konzentration von Aspirin in meinem Blut täglich in einem wissenschaftlichen Labor bestimmen; auch wurden täglich Hörprüfungen durchgeführt.

Schon nach drei Tagen begann ein ganz leises Sirren in beiden Ohren, das sich dann sehr schnell innerhalb von zwei weiteren Tagen zu einem unerträglichen hohen Klingen steigerte. Das Geräusch war in seiner Qualität etwa vergleichbar dem Ton einer Triangel, nur ganz laut, schrill und hoch, mit einem zusätzlichen Rauschen unterlegt. Man könnte es auch mit einem Ton vergleichen, der entsteht, wenn man ein großes frei schwebendes Eisenstück kräftig mit einem Hammer anschlägt.

Mit der Zunahme der Lautstärke des Geräusches ließ auch noch mein Hörvermögen nach. Ich hörte alles wie durch Watte, gedämpft, wie aus weiter Entfernung. Auch dieser Effekt konnte bei mir objektiv durch Ableitung der otoakustischen Emissionen täglich gemessen und dokumentiert werden. Erstaunlicherweise war der Abfall der Hörleistung in den objektiven Messungen der OAE’s erst nachweisbar, als er sich längst schon subjektiv ausgeprägt hatte.

Am Tage des Auftretens der ersten lauteren Geräusche begann noch etwas ganz anderes – für mich Gravierenderes – einzusetzen: eine starke psychische Unruhe. Ich bekam heftige Panikzustände, fühlte mich gehetzt von den Schreckensvisionen, dass der Tinnitus, der mich mit ohrenbetäubendem Dröhnen mittlerweile halb wahnsinnig machte; entgegen den Versicherungen in der Literatur vielleicht doch ewig bleiben könnte. Ich hatte schlaflose Nächte, war auch tagsüber schweißgebadet, wusste nicht, ob dies eine Nebenwirkung des Aspirin oder etwa die Folge des fürchterlichen Tinnitus war. Ich bekam eine solche Panik, dass ich in meiner Not sogar einen Psychotherapeuten aufsuchen musste. Ich bereute nun zutiefst, mein Experiment überhaupt begonnen zu haben. Ich war verzweifelt, und ich hatte
Angst, schreckliche Angst, dass der Tinnitus für immer persistieren könnte.

Doch plötzlich – genau in diesem Moment – wurde mir eines überdeutlich: ››Das ist also die grässliche Erscheinung, das Phantom, vor dem die Patienten so panische Angst haben. Es geschieht dir ganz recht, dass du leidest, du hast es ja nicht anders gewollt, du hast es ja sogar darauf angelegt, dem Tinnitus leibhaftig zu begegnen.« Ich brach das Experiment in diesem Moment sofort ab, in der Hoffnung, dass der Tinnitus auch verschwinden würde. Doch zu meinem Entsetzen blieb er noch tagelang unverändert in meinem Kopf bestehen. Und nur sehr langsam und allmählich begann er sich zu verringern, in ganz kleinen Schritten, Woche für Woche, Monat für Monat, Iahr für Iahr. Auch heute ist er noch nicht ganz verschwunden und erinnert mich zwischendurch immer wieder an das grauenhafte Erlebnis von damals. Besonders dann, wenn ich stärkerem Stress ausgesetzt bin, wenn sich Belastungen des täglichen Lebens bemerkbar machen, wird er wieder lauter und ermahnt mich, dass ich etwas in meinem Leben verändern, reduzieren muss. Ich erzähle natürlich niemandem davon, außer in ganz seltenen Fällen dem einen oder anderen Tinnituspatienten, wenn er besonders verzweifelt ist. Dem berichte ich dann von meinem Experiment und sage ihm, dass ich ››eingeweiht« bin, dass ich ihn verstehe, weil ich ja selber Tinnitus habe.
Auf jeden Fall war dieses Selbstexperiment eine Zäsur in meinem Leben, es hat mich verändert. Ich habe eine Grenze überschritten, habe Fremdes, vorher nie Gefühltes kennen gelernt, Unvorstellbares selbst erfahren. Ich weiß jetzt – nicht durch Erklärung, sondern durch
eigenes Erleben – was es heißt, in tiefer Verzweiflung nicht verstanden und nicht ernst genommen zu werden. Diese Erfahrung hat mich darin bestärkt, hat mir Kraft gegeben, mich noch intensiver der Tinnitustherapie zu widmen.

Damit bin ich auch schon wieder bei dem hier vorliegenden Buch von Hans-Jürgen Heinrichs, in welchem ich mich Seite für Seite selbst wieder finde. Das gilt nicht nur für mich als Therapeuten, sondern in viel stärkerem Maße für mich als Tinnitusbetroffenen, als Leidenden, als Patienten. Auch bei mir haben in voller Bestätigung der von Heinrichs vorgetragenen Überlegungen und Theorien – vielleicht in ganz besonders verschlungener Weise – die tieferen Lebenslinien (und nicht nur die Idee eines Selbstexperiments) letztlich zur Entstehung des Tinnitus geführt. Allein schon die Tatsache, dass ich überhaupt ein Selbstexperiment durchgeführt habe, dass ich Abenteuer und Risiko auf mich genommen habe, um den Tinnitus kennen zu lernen, muss ja mit meinen tieferen seelischen Strukturen zu tun haben. Diese könnte ich nun im Rahmen psychoanalytischer Arbeit unter Anwendung der Individuellerı-Tinnitus-Therapie noch zu meinen Lebcnsl in im in Beziehung setzen. Damit wären dann auch in meinem Falle bis ins Kleinste die von Heinrichs vorgetragenen Thesen, auf die ich jetzt wieder zurückkommen möchte, bestätigt.

Heinrichs führt seine Untersuchungen in kreisenden Denkfiguren durch, die sich von der eigenen Subjektivität behutsam lösen, um sich in klar strukturierten Schritten zu allgemein gültigen Abstraktionsebenen hin zu entwickeln. Die an eigene Erfahrung geknüpfte, also vitale Allgemeinheit seines frei schwebenden Denkens und das Eingehen auf unterschiedlichste Dimensionen des Seins führen andererseits auch dazu, dass es für Heinrichs unmöglich wird, einen Denkansatz im Sinne der akademischen Wissenschaft ganz zu Ende zu führen. Dies ist aber auch nicht beabsichtigt, das kann gar nicht gelingen, angesichts der Neuheit seines Ansatzes.

Angesichts des so all-umfassenden Denkansatzes könnte sich der eine oder andere Leser provoziert fühlen. Der Autor weicht ja nicht einmal davor zurück, den Tinnitus als Singularität des individuellen Lebens auch zu kosmischen Dimensionen in Beziehung zu setzen. Je nachdem, aus welcher Spezialdisziplin der Leser sein Denken nun herleitet, könnte er Unvollkommenheiten und Unzulänglichkeiten, ja vielleicht sogar Ungereimtheiten und Unverträglichkeiten zu entdecken meinen, und daran Anstoß nehmen. Heinrichs möchte den Leser aber nun dazu führen, diesen jeweiligen Stein des Anstoßes positiv aufzugreifen, ihn zu einem Denkanstoß für sich selbst zu transformieren und eigenständig produktiv weiterzuentwickeln. Er ermutigt zur Selbstanalyse und stellt immer wieder fest, dass Heilung“ nur als Selbstheilung begriffen werden kann.

Der Autor entwirft seine neue Theorie einer Irıdividuellen-Tinnitus Therapie (ITT) auf der Grundlage der bisher praktizierten Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT), die von Jastreboff entwickelt wurde und die sich außerordentlich erfolgreich auch international durchgesetzt hat. Hierbei handelt es sich um eine erlernbare Kunstfertigkeit des Heilens, die jedem Tinnituspatienten gleichermaßen angeboten werden kann. Heinrichs transzendiert diese Technik und erarbeitet auf ihrem Hintergrund eine dem Individuum in seiner Einzigartigkeit zugewandte tiefenpsychologische Methode, die Individuelle-Tinnitus-Therapie. Im Rahmen dieser neuen Therapieform werden Tiefenstrukturen der individuellen Lebenslinien des Einzelnen als fundamental für den Heilungsprozess angesehen.

Somit greift die Individuelle-Tinnitus-Therapie weit über die Retraining-Therapie hinaus, die als eine für jeden Tinnituspatienten gleichermaßen anwendbare Behandlungstechnik angesehen werden kann und auf allgemein anerkannten naturwissenschaftlichen Zusammenhängen beruht. Für die herkömmliche Tinnitus-Retraining-Therapie ist die Berücksichtigung europhysiologischer Strukturen und Zusammenhänge im Zentralnervensystem von größter Bedeutung. Die Anatomie, also die Haarzellen im Innenohr und die zentralen Anteile der Hörbahn, das Limbische System als wertende Instanz, sowie das neuronale Netz für die Kontrolle und Ausrichtung der Aufmerksamkeit spielen im Rahmen der TRT eine zentrale Rolle. Die auf den drei Symptomen Hörminderung, Hyperakusis und Tinnitus beruhende Kategorisierung nach Iastreboff kann prinzipiell ebenfalls bei allen Patienten und nach den gleichen Kriterien erfolgen. Die entsprechende Therapie mit Schallbehandlung, Councelling und Übungen der Aufmerksamkeitsablenkung ist als Methode generell anwendbar.

Anders die ITT: hier muss sich der Therapeut empathisch in den Lebensentwurf, in die Innenwelt des Betroffenen, in sein Lebensdrama einfühlen und unter Zuhilfenahme psychoanalytischer Konzepte und Techniken zum Seelenleben des Einzelnen in Beziehung treten.

Eine genaue Kenntnis und Dechiffrierung der Bedeutungen und Symbole in der Seelenwelt des jeweiligen Tinnituspatienten ist erforderlich und muss gemeinsam mit ihm in Gesprächen erarbeitet werden. Nur wenn sich schließlich die Botschaft des Tinnitus in ihrer symbolischen Bedeutung für das Individuum entschlüsseln und deuten lässt, kann sich im Verlauf der ITT ein Heilungsprozess entwickeln.

Die auf Iastreboff und Hazell zurückgehende Tinnitus-Retraining-Therapie ist, als erster Behandlungsansatz und als fundamentale Ausgangsbasis, immer in der ITT enthalten. Für viele Patienten mag die TRT allein schon ausreichen, und nicht alle Patienten, die so behandelt werden, benötigen auch zusätzlich noch eine ITT als weiterführende Behandlung. In vielen Fällen jedoch ist das Phantomgeräusch symbolisch extrem stark aufgeladen und weist über den Tinnitus als momentan zu erleidendes Symptom und eine zu verarbeitende Funktionsstörung weit hinaus. Dann sollte die Individuelle-Tinnitus- Therapie zusätzlich angeboten werden.

Mithilfe dieser Therapie kann man versuchen, die Menschen aus ihren Ängsten, ihrer Panik und ihren zum Teil verqueren und auswegslosen Deutungsmustern der eigenen Existenz herauszuführen. Die Deutung seelischer Tiefenstrukturen weist weit über rein naturwissenschaftliche Zusammenhänge hinaus und berücksichtigt auch unübliche Wechselwirkungen und Resonanzen. Der Therapeut partizipiert bei der Dynamisierung seelischer Kräfte am Leben des Betroffenen mit dem Ziel, durch diese therapeutische Anteilnahme eine ganzheitliche Heilung herbeizuführen, bei der das Symptom Anlass und Wegweiser ist.
Es geht ja oft nicht mehr nur um das Kurieren eines Symptoms oder einer Krankheit, sondern um die Heilung des Menschen in seiner Gesamtheit, wenn er sich immer tiefer in seine Lebenskrise verstrickt hat und der Tinnitus als Schrei der Verzweiflung aus den tiefsten Schichten des Unbewussten gedeutet werden muss. Menschen können nicht nur von äußeren Belastungen erdrückt und von wahnhaften Vorstellungen und Ängsten irregeleitet werden; sie können auch an ihren inneren Strukturen scheitern oder von eigener pathologischer Leistungskraft zerstört und gleichsam zerrissen werden.

Diese Situation ist durch einen Vergleich mit der technischen Ebene in der gegenständlichen Welt anschaulich zu machen. Denken Sie nur an ein Flugzeug, das für seine Bauweise viel zu schnell fliegt. Bei fortwährender Übersteuerung mit überhöhter Drehzahl und ständiger Maximalgeschwindigkeit werden die Verbindungselemente überlastet. Das Ganze reißt auseinander, zerfällt in seine Einzelteile und ist als Funktionsgebilde nicht mehr heil.

Analog dazu ist auch das Verhältnis zwischen den biologischen Möglichkeiten des Menschen und den Belastungen aus seinem unmittelbaren sozialen Umfeld in unserer heutigen materialistischen und technologischen Informations- und Erlebnisgesellschaft aus den Fugen geraten. Wir sind nicht dafür geschaffen, ständig als Verkehrs- und Arbeitsmenschen überbeansprucht zu werden, von akustischen und visuellen Signalen permanent gereizt zu werden.

Wie sollen wir heil bleiben, wenn wir immer wieder als Teil einer größeren Erregungsmasse von pseudo-wichtigen Informationen in neue Vibrationen versetzt werden? Wie sollen wir innere Ruhe finden, wenn wir wie besessen uns ständig dazu getrieben fühlen, von einem Ereignis zum nächsten zu hetzen? Solche exzessiven Belastungen von außen müssen zwangsläufig zu ungeheuren Scherkräften und Spannungen im Erlebnisinneren führen.

Wenn die Seele ständig solchen Trenn- und Spaltungstendenzen ausgesetzt und Zerreißproben unterworfen ist, werden schließlich lebensfeindliche und destruktive Kräfte zu Rissen und Ermüdungsbrüchen führen. Daraus entwickeln sich dann erst Anfälligkeiten und schließlich manifeste Erkrankungen. Tinnitus ist dabei eine geradezu typische Folgeerscheinung, die in den letzen Iahren an Häufigkeit dramatisch zugenommen hat.

Um Abhilfe zu schaffen, genügt es meistens nicht, das Symptom zu lindern oder einen einzelnen Schaden zu reparieren. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, Zerstörungspotentiale auf allen Ebenen abzubauen und den Menschen in seiner Gesamtheit wieder wahrzunehmen und zu stärken. Dabei müssen auch die Voraussetzungen und Rahmenstrukturen, die den Tinnitus erst ermöglicht haben, beseitigt werden. Gefragt ist ein Heiler (im umfassenden Sinn), der die abgetrennten und verbogenen Lebenslinien zunächst dechiffrieren und identifizieren kann, um sie anschließend auch wieder zu ››richten«, zusammenzuknüpfen und zu reintegrieren.

Mit einer Analyse allein ist es hier nicht getan; hier geht es um viel mehr. Zur Diskussion steht das Wagnis, unter Aufliebung der bisher üblichen therapeutischen Distanz, Sympathie und Anteilnahme zu zeigen, aneinander zu partizipieren. Es geht um therapeutisches Da-sein und Bei-stehen, und, in weiteren Schritten, um eine rekonstruktive Psychosynthese.

Die ITT hat es sich zur Aufgabe gemacht, in dieser Richtung ganz neue Wege zu gehen, um gesunde, heile Strukturen im Patienten zu synthetisieren, also wieder stark zu machen und den ursprünglichen stabilen Zustand auf einer viel breiteren Basis erneut herzustellen. Die Quellen für seelische Kräfte müssen wieder freigelegt werden, um dem Menschen in seinem je eigenen Lebensgeflecht Sicherheit finden zu lassen, um ihm schöpferische Gestaltungskraft für neue Verbindungen und Anknüpfungspunkte mit anderen Menschen zu verleihen.

Solange er sich noch in seinem eigenen Netz verstrickt und verfangen hat, ist er unbeweglich. Verbleibt er in der Rolle des Opfers, kann ihn der Tinnitus wie ein Stachel erbarmungslos und zielsichcr aufspießen, ihn wie ein Insekt anstechen, ihn aussaugen und ihm alle Energie rauben, bis hin zur völligen Erschöpfung und unter Um ständen sogar zum Tod.

Sobald sich das Netz aber öffnet und er sich wieder frei und tänzerisch bewegen kann, ist der Bann gebrochen. Der Betroffene spürt dann neue Kraft in sich aukeimen und kann unter Umständen nach erfolgter Heilung wieder (oder auch: zuallererstl) durch eigene Impulse seinen Lebensformen eine souveräne, authentische Gestalt verleihen.

Das Buch von Hans-Jürgen Heinrichs gewinnt seine große medizinische Bedeutung also dadurch, dass es durch Einbeziehung psychoanalytischer Gesichtspunkte weit über die herkömmlichen Behandlungstechniken hinausgeht und durch die Entwicklung der Individuellen-Tinnitus-Therapie völlig neue Behandlungsmöglichkeiten eröffnet. Die ITT hat sich bereits jetzt praktisch bewährt. Bei einer ganzen Reihe von Patienten, bei denen andere Theapieversuche gescheitert waren, hat die ITT zu einer Form der Heilung geführt, die vom Patienten wie eine Rettung und Erlösung vom Tinnitus erfahren wurde.

Wer sich mit derartigen weiterführenden Heilungskonzepten beschäftigen möchte oder sich einfach zu kühnen Exkursionen in menschliche Erlebnisinnenwelten mit ihren vielfältigen Wahrnehmungs- und Seelenlandschaften animieren lassen möchte, der sollte nicht zögern, sich von diesem Buch faszinieren und verzaubern zu lassen.